Niels über das Recht auf Stadt | NACHBARN

Niels über das Recht auf Stadt | NACHBARN

Journalist und Aktivist Niels Boeing setzt sich für das Recht auf Stadt ein. Er verrät, wie wir nachbarschaftliche Strukturen bilden können.

Was ich mache

Ich wohne in St. Pauli Mitte, nördlich der Reeperbahn und bin seit vielen Jahren im Recht auf Stadt-Netzwerk in Hamburg aktiv. In verschiedenen Initiativen. Eine hier in der Straße wo wir stehen. Und hinter mir ist gerade der Arrivati-Park, den es seit sieben Wochen gibt. Das ist ein Park für die Nachbarschaft, aber auch gerade zum Thema Flucht und Migration.

Nachbarn Botschaft: Niels Boeing

Nachbarschaften können viel bewirken

Die Nachbarschaft ist, wo sich eigentlich das Leben abspielt. Der Rest sind schon Abstraktionen. Alles was wichtig ist, fängt in der Nachbarschaft an. Wenn wir uns fragen: Was ist gut im Alltag? Aber auch: Was sollte besser werden - in der Gesellschaft? Dann ist die Nachbarschaft der Ort, wo es losgehen muss. Glaube ich inzwischen. Das habe ich auch nicht immer so gedacht. Aber an die ganz großen, hoch fliegenden, ambitionierten Bewegungen glaube ich im Moment nicht. Ich glaube eher, dass die Power der Nachbarschaften - wenn sie sich denn alle miteinander verbinden - eine ganze Menge bewirken kann.

Vielfalt ist wichtig

Nachbarschaft kann natürlich sehr steril sein. Die Leute können da irgendwie nebeneinander her leben. Ich glaube das Tolle an einer echten städtischen Nachbarschaft ist einmal diese Unterschiedlichkeit. Die Leute die da alle auf einem Fleck versammelt sind, mit ihren Konflikten aber auch dem, was sie gemeinsam hinbekommen. Diese Vielfalt ist das Wichtige. Ich halte zum Beispiel auch nichts von Nachbarschaften, wenn sie so neu "gebaut" sind. wenn sie zum Beispiel keine Läden haben. Das finde ich ganz fürchterlich.

Eigentlich sehen wir ja, zieht es die Leute seit zwanzig Jahren wieder in diese quasi übrig gebliebene alte Stadt. Die nicht irgendwie umgebaut und modernisiert wurde, vor 50 Jahren. Weil dort alles zusammen kommt: leben, arbeiten, wohnen, Spaß haben.

Die Menschen in die Stadtplanung einbeziehen

Die Städte haben die Bedeutung von Nachbarschaft zu einem großen Teil noch gar nicht begriffen. Zwar erzählen ihnen das die Soziologen und Stadtplaner, aber wenn zum Beispiel große Bauvorhaben sind, dann geht das in der Regel an den Leuten die da wohnen vorbei. Oder sie müssen sich das erstreiten. Also hier auf St. Pauli hat das jetzt Gott sei Dank einige Male geklappt. Und da kommen auch ganz tolle Ergebnisse heraus. Da kann man vielleicht sagen: Die Fantasie der Vielen, aber auch die Expertise der Vielen die da sind, bringt manchmal viel interessantere Sachen hervor. Neue Quartiere oder große Bauvorhaben, wie zum Beispiel [in Hamburg], die Esso-Häuser, wenn sie so gebaut werden, wie es sich die Planbude ausgedacht hat.

Ich frage mich manchmal: Woran liegt das? Ist das der Behördenapparat, der denkt: "Oh Gott, nein. Die Leute sollen uns bloß von der Pelle rücken. Damit möchten wir nichts zu tun haben"? Die Städte verschenken eigentlich enorm viel, wenn sie die Nachbarschaften nicht maßgeblich machen lassen.

Ins Gespräch kommen

Wir, damit meine ich die Leute die hier seit einiger Zeit viel machen, hören öfter: "Das ist super, dass ihr das für uns macht!" Wo ich immer denke: Ja Leute, das ist aber nichts Besonderes. Da könnt Ihr auch mit anfangen. Hier wohnen Menschen und mit denen können wir ins Gespräch kommen. Wir können ja nicht alle kennen am Anfang. Es fängt immer mit einem Gespräch an. Anders funktioniert es nicht.

Und was aus meiner Erfahrung sehr wichtig ist, ist, dass man, wenn man anfängt auch als Nachbarschaft zu agieren, darauf achtet auch irgendwie keine verschwurbelte Sprache zu benutzen. Sondern mit den Leuten so zu reden, wie man sich tagsüber auch sonst unterhält. Also einfach eine normale Sprache. Und dass das was man dann macht, auch wenn das politische Aktionen sind, Spaß macht. Ich finde es sogar total wichtig, dass es Spaß macht.

Essen ist immer ein ganz tolles Beispiel. Man kann alle Nase lang miteinander auch im öffentlichen Raum Essen veranstalten. Und über das Essen, das wissen wir, kommen seit Jahrtausenden die Leute zusammen. Die hecken Ideen aus. Das sind so elementare Sachen, die eigentlich auch nicht neu sind. Da muss man sich manchmal vielleicht wieder darauf zurückbesinnen. Also miteinander reden, miteinander essen... Und dann kann man auch eine gewisse Energie entwickeln, um dann mal über essen und reden hinaus zu kommen.

Community Organizing ist das Schlüsselkonzept

Ich glaube, es ist schon sehr wichtig, dass Community Organizing nicht aus dem Auge zu verlieren! Eine politische Initiative kann auch einiges bewirken, wenn sie so als verschworene Gruppe etwas in Bewegung setzt. Das hat dann manchmal schon fast was von Kunst, aber auch so Politzirkeln. Aber ich glaube Community Organizing ist für alles was so in den nächsten 10 bis 20 Jahren ansteht ein totales Schlüsselkonzept. Das gibt es ja jetzt schon länger. Ich glaube Saul Alinsky hat das Ende der 30er Jahre oder so in den USA angefangen. Also erst wenn aus so einer Nachbarschaft eine wird, wo die Leute miteinander reden und auch gemeinsame Ziele entwickeln, dann können sie, glaube ich, eine Menge Überzeugungskraft, aber auch Aufsässigkeit entwickeln. Wenn zum Beispiel dann eine Stadt sagt: "Das wollen wir nicht." Community Organizing hätte ich jetzt selber vor zehn Jahren zum Beispiel auch nicht so in den Vordergrund gestellt. Aber nach meiner Erfahrung ist das ein Schlüsselding.

Die ideale Nachbarschaft

Und raus aus diesen Vereinzelungen. Vereinzelung kann auch schön sein. Wenn man mal einen Abend auf dem Sofa abhängt und Binge-watching mit TV-Serien macht. Man muss jetzt nicht jeden Abend so viele Leute um sich haben. Aber der Mensch ist schon irgendwie ein Gruppentier, finde ich. Und das kann er interessanterweise auch in Städten sein. Da manchmal noch viel mehr, als auf dem sogenannten Land. Das finde ich sehr interessant.

So wie es jetzt hier ist, ist es natürlich noch nicht ideal. In den Städten ist das Problem vor allem der Mietenwahnsinn. Das ist in den letzten zehn Jahren überall spürbar geworden, selbst in den kleineren Universitätsstädten. Ideale Nachbarschaft ist sehr vielfältig. Sie ist für mich auch sehr kosmopolitisch. Und sie wäre auch eine angstlose Nachbarschaft, in dem Sinne, dass nicht die Frage ist: Oh Gott, werden wir aus unserer Wohnung rausgeschmissen? Geht die Miete hoch? Solche Sachen. Die ideale Nachbarschaft wäre für mich sogar eine, wo alle zusammen ihren Wohnraum gemeinsam verwalten und er ihnen vielleicht auch im Sinne eines vergesellschafteten Eigentums gehört.

Die ideale Nachbarschaft ist für mich auch eine, in der Dinge produziert werden. Eben keine Schlafstadt, aber nicht nur so Super-Design-Läden oder noch ein Büroarbeitsplatz, und Dienstleistungen. Richard Sennett hat in seinen letzten drei Büchern, glaube ich, ganz schön herausgearbeitet, was für einen sozialen Wert auch das Handwerkliche hat. Immer schon. Dieses Zusammenarbeiten. Das Buch hieß ja sogar auf deutsch "Zusammenarbeit". Also in einer idealen Nachbarschaft gibt es total viele Werkstätten. Die Leute machen Sachen zusammen. Mancher macht´s auch allein, aber er oder sie kann auch sofort jemanden fragen: "Sag mal, ich komme ich hier nicht weiter... Wie geht das?" Und sie hätten natürlich auch einen tollen Stadtgarten. Solche Sachen auch.

Also, ich glaube von der Vorstellung sind wir inzwischen gar nicht mehr so weit weg. Hier liegen überall in den Städten Zutaten herum. Und es wird ganz viel experimentiert. Ich finde, es ist eine wahnsinnig spannende Zeit. Also, es ist total anders als vor 20 Jahren. Es hat noch nicht die kritische Masse erreicht, dass jetzt jeder damit zu tun hat oder auch jeder sich darauf einlässt. Ich bin aber ganz optimistisch, dass wir das schaffen könne.

Recht auf Stadt - Recht auf Teilhabe

Recht auf Stadt heißt eigentlich, dass alle die in der Stadt leben das Recht auf diese Stadt haben. Oder auf Aspekte der Stadt. Von Lefebvre 1968 so mal in den Raum geworfen als eine Idee. Damals noch sehr unkonkret. Aber diese Idee war ein Gegenpol zur fordistischen Arbeitsgesellschaft, aber auch vielleicht zu unserer heutigen. Wo man so auf dieses Bürger und Lohnarbeiter sein reduziert ist. Und sich so auch städtische Räume strukturieren. Das war ja nach dem Krieg ganz extrem, als dann diese Vorstädte und Suburbia entstanden sind. Das gab es ja in der Art vorher nicht. Das hatte damit zu tun. Die Leute haben plötzlich das Auto als bezahlbares Massenprodukt. Man kann pendeln. Fabriken ziehen in den Gürtel, an den Stadtrand und aus den Städten raus. Das hat dann alles seine Dynamik gehabt. Aber was da raus kam... Verbunden vielleicht auch mit diesem 60er Jahre Wohnungsbau. Diesen Trabantenstädten - in so einer habe ich sechs Jahre meiner Kindheit auch mal gelebt. Die "Charta von Athen". Das war der Geist der Moderne. Das ist ja nach heutigen Maßstäben eine totale Sackgasse gewesen. Weil die Leute einfach nur in Wohnschachteln weg verwaltet werden.

Und Recht auf Stadt wäre eher zu sagen: Ich habe das Recht auf die Straße, auf den öffentlichen Raum, ein Recht auf Wohnen. Ein Recht auf Teilhabe. Also, solche Sachen! Es ist eigentlich ein gar nicht so kompliziertes Konzept. Es ist jetzt keines, woraus man eine Verfassung schreibt oder ein Gesetzbuch. Aber wenn man ein bisschen darüber nachdenkt, kriegt man einen neuen Blick auf Stadt.

Ich habe gemerkt, als hier das Hamburger Netzwerk aus diesen zwei Dutzend Initiativen damals mit diesem Slogan in die Öffentlichkeit ging, dass es einen enormen Zulauf gebracht hat. Das hatte so einen Nachhall. Als ob man da so einen Punkt getroffen hätte. Irgendwie konnte sich jeder etwas darunter vorstellen. Auch wenn es nicht dasselbe ist oder auch diffus bleibt. Aber es war eine andere Anmutung als zu sagen: Wir kämpfen gegen Gentrifizierung, zum Beispiel. Nein, wir sind FÜR das Recht auf Stadt.

Das ist eigentlich erst mal so eine Erkenntnis: Die Stadt, das ist nicht die Behörde, wo du deinen Pass holst oder wo du deinen Bußgeld bezahlst. Wir sind das alle zusammen! Wenn diese Erkenntnis einmal so ein bisschen anfängt im Kopf ihr Eigenleben zu führen, dann sagen die Leute auch: "Nein, das akzeptiere ich nicht. Ich möchte das hier mitformen, mitgestalten, mitbestimmen. Und mir das nicht immer nur sagen lassen."

Mein Traum

Die kosmopolitische Stadt, dass ist mein Traum der Zukunft. Wo die Leute von überall aus der Welt kommen. Und irgendwie miteinander hinkommen. Solche Städte gibt es ja auch. Rio de Janeiro, New York City, das sind im Prinzip vielleicht Prototypen für die Zukunft. Ich glaube, dass das eigentlich Städte aus dem 20. Jahrhundert sind, in denen man schon eine weitere Zukunft gesehen hat. Und da kann Hamburg sich noch drei Scheiben abschneiden. Und einige andere Städte auch.

Mein Appell: Versammelt euch! Das würde ich sagen. Fangt an Euch als Quartiere, als Nachbarschaft zu versammeln - wirklich zu sehr vielen - und darüber zu reden, was ihr hier wollt. Was euch nicht gefällt. Wovon ihr träumt. Was ihr anders haben wollt. Versammlung ist der Anfang aller Demokratie. Und dafür braucht es auch keine Gesetze. Das kann man einfach selber machen. Sich versammeln, das finde ich ist der erste Schritt, herauszutreten aus diesem: Na ja, ich bin hat da.

Hier findest du die programmatische Grundlage von Recht auf Stadt.

Aktion: So kannst du unverpackt einkaufenDu hast Lust bekommen, dich nach einer gemeinschaftlichen Wohnform umzusehen? Bei der Aktion "Hallo Nachbar*in" kannst du dich inspirieren lassen und deine Recherche organisieren.

Zur Aktion: Hallo Nachbar*in

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